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Das
Dorf vor 250 Jahren
Die
Lager-, Stück- und Steuerbücher
Landgraf
Friedrich I. von Hessen – Cassel (1730 – 1751) beabsichtigte
eine solide Grundlage für den Finanzhaushalt des Landes zu
schaffen. Dabei strebte er zwei Ziele an: er wollte nicht nur genügend
Geld in der Staatskasse haben, es sollte bei der Erhebung der
Abgaben auch eine gewisse Steuergerechtigkeit gewährleistet sein.
Deshalb ordnete er schon kurz nach seinem Regierungsantritt an, das
Land großflächig zu vermessen und dann jedes Grundstück, jede
einzelne Parzelle zu erfassen, steuerlich zu bewerten und in ein
sogenanntes Lager-, Stück- und Steuerbuch einzutragen.
Die
Aufgaben, die Landgraf Friedrich seinerzeit einer „Specialcommission“
zugeschrieben hat, waren für die damalige Zeit enorm. Die Arbeiten
dieser Sonderbehörde erstreckten sich über mehr als fünfzig Jahre
(etwa von 1736 – 1791). Zuerst hat man die kleineren Gemeinden
vermessen und erfasst. Wagenfurth 1744, Lobenhausen und
Empfershausen schon 1743, während das Lager-, Stück- und
Steuerbuch für Körle im Jahre 1776 angefertigt wurde.
Die
Bücher sind nur als Handschriften vorhanden, sie sind für fast
alle Dörfer der ehemaligen Landgrafschaft Hessen – Cassel
erhalten geblieben und können im Staatsarchiv Marburg eingesehen
werden.
Wagenfurth
in den Jahren 1743/1744
Die
Lager-, Stück- und Steuerbücher enthalten nicht nur ein
Verzeichnis der Einwohner und deren Grundvermögen, für jede
Gemeinde wurde eine sogenannte „Vorbeschreibung“ verfasst.
Obwohl sich die Arbeiten über einen langen Zeitraum erstreckten,
sind alle diese Vorbeschreibungen nach dem gleichen Schema
angefertigt worden. Am Anfang des Wagenfurther Lager-, Stück- und
Steuerbuches aus dem Jahre 1744 finden wir die erste umfassende
Beschreibung des Dorfes. In den folgenden Ausführungen habe ich häufig
den Originaltext übernommen, um einen gewissen Eindruck von der
damaligen Sprache zu vermitteln.
Die
Ortslage
Die
Beschreibung der Ortslage mutet uns heute sehr seltsam an; sie
lautet: „Dieses Dorf liegt 1 ¼ Stunde unterhalb der Stadt
Melsungen, und ¼ Stunde oberhalb des Dorfes Grebenau und grenzet
nordwärts an Grebenau und den Geysoischen Wald, ostwärts (grenzt
es an) den Fuldastrom und an das Dorf Körle, südwärts eine kleine
Viertelstunde an das Dorf Lubenhausen und westwärts an den
herrschaftlichen und ihren Gemeindewald. Ihre Feldmark liegt
zwischen der Fulda und dem herrschaftlichen und ihrem Gemeindewalde,
außer etlichen Wiesen, so jenseits der Fulda liegen. Keine Bäche
und starke Brunnen haben sie dieses Ortes, außer dass die Fulda
nahe bei diesem Dorf vorbeifließt und gehört solche allergnädigster
Herrschaft, welche den Fischfang, (der) sogleich über Wagenfort
beim sogenannten Bornfluss anfängt und über Grebenau vor dem
sogenannten Hohen Ufer endiget, um 2 Rthl. an Einwohner vermeiert.“
Anzahl
der Häuser und Menschen
„Dies
Dorf besteht aus 8 Hufen (Bauernhöfen) und 9 Köddersitzen (gemeint
sind hier Häuser, die keine Bauernhöfe sind) und ein Gemeinde –
Hirtenhaus. Darin wohnen 11 Männer, 13 Weiber, 19 Söhne, 24 Töchter,
5 Knechte, 3 Mägde.“ Demnach gab es im Jahre 1743 in Wagenfurth
75 Einwohner. Davon waren 7 Ackerleute, 1 Leinweber, 2 Zimmerleute
und 1 Schafhirte.
Wir
erfahren auch: „Keine adligen Personen und kein Pfarr- und
Schulmeister sind allhier.“
Belastung
durch Wildschaden und Bodenerosion
„Hiesige
Feldmark liegt aufwärts, an ihrer Gemeinde- und herrschaftlicher
Waldung her und sind dem Wildfraß stark unterworfen. Ihre auf’m
Gleichen liegende Länderei ist ziemlich guter Qualität, zumal sie
solche mit Pfirchen (Schafpferche) besser zu aktivieren vermögen.
Die meiste Länderei aber lieget aufwärts, desfalls die Regengüsse
manchmal großen Schaden verursachen. Die oben an den Wäldern her
sind sehr schlecht, so dass dasjenige, was das Wildpret stehen lässt,
kaum die - und manchmal nicht die Mühe – lohnt.“
Gemeinbesitz
und Gemeinderechte
Im
Eigentum der Gemeinde befand sich ein Hirtenhaus mit 8 Ruthen
Hirtengarten. In den Dörfern unserer Gegend war es üblich, dass
eine große Fläche der Gemarkung in Gemeinbesitz war. Schon aus der
Zeit der Germanen ist uns der Begriff „Allmende“ überliefert.
In der Gemarkung Wagenfurth gehörten zu diesem Allgemeinbesitz oder
der „Gemeinheit“, wie sie gelegentlich genannt wurde:
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1/10 Acker „Wiesenwuchs“ sowie „23 ½ Acker, 8 Ruthen Huten
und Wüstungen.“ Dazu kamen 52 ¼ Acker, 4 Ruthen „kleine
Waldung.“ Darunter verstand man sogenanntes Buschholz. Daneben
hatten die Wagenfurther noch besondere Rechte an einem 109 Acker 18
6/8 Ruthen großem Waldgebiet.
Um
viele Regelungen aus jener Zeit zu verstehen, muss man bedenken,
dass die Landwirtschaft unter völlig anderen Gesichtspunkten
betrieben wurde. So kannte man zum Beispiel bei der Viehwirtschaft
die heute übliche Stallhaltung nicht. Das Vieh wurde unter der
Aufsicht von Hirten in die Dorfgemarkung getrieben, wo es auf den
Huten und dem Brachland nach Futter suchen musste. Weil diese Flächen
nicht ausreichten, wurden auch bestimmte Waldgebiete als sogenannter
Hutewald genutzt.
In
dem 52 ¼ Acker großen Gemeindewald, also in dem schon erwähnten
Buschholz, hüteten die Einwohner ihr Zugvieh, Pferde und Ochsen,
auch wurden gelegentlich Schafe dort gehütet. Das Lager-, Stück-
und Steuerbuch berichtet auch, dass „alle 7 - 8 Jahre ein jeder
(Hausbesitzer) ein Fuder Büsche daraus bekommt.“
Die
Nutzungsrechte an dem erwähnten größeren – etwa 109 Acker –
Wald bestanden darin, dass „jeder Hauseigentümer höchstens jährlich
ein Fuder alt abständig Eichenholz, so 8 Albus wert ist und wenn
einer ein neu Haus oder Scheuer aufbauen lässet, 4 Eichenschwellen,
davon jede 1 Rth. wert ist“, bekommt.
Dieser
Wald durfte als Hutewald genutzt werden. Zur Zeit der „vollen
Masten“, d.h. wenn es Eicheln und Bucheckern gab, durften 30 –
40 Schweine hier weiden. Dafür müssen die Bauern „gnädigster
Herrschaft die halbe Mastgebühr nämlich vom Stück wöchentlich
1 alb. 4 hlr., in die Renterey Melsungen entrichten.“ Wenn die
Schweine in andere Wälder getrieben werden, ist die volle Mastgebühr
zu bezahlen.
Auch
können die Wagenfurther jährlich ein Klafter Buchenholz aus dem
herrschaftlichen Wald – also dem heutigen Staatswald – kaufen.
Dafür müssen sie 15 Albus für das Holz und 10 Albus 8 Heller
Hauerlohn zahlen. Auch damals, scheint mir, war der Hausbrand teuer;
und es ist kein Wunder, dass die ganze Großfamilie an den kalten
Winterabenden sich gemeinsam in einem Raum aufhielt.
Viele
Dienste belasten die Untertanen
Unter
dem Begriff Dienste verstand man damals Dienstleistungen, die
unentgeltlich von den Untertanen dem jeweiligen Landesherren oder
auch einem vom Landgrafen begünstigten Adeligen zu erbringen waren.
Diese „Zwangsarbeiten“ waren in der Landgrafschaft Hessen Kassel
für fast alle Dörfer ähnlich. Weil darüber schon viel
geschrieben wurde, nenne ich hier nur einige dieser Verpflichtungen
als Beispiel. Die Bauern in den Dörfern mussten für den Landgrafen
, oft für andere Adlige, sehr viel Fahrten durchführen. Da waren
landwirtschaftliche Erzeugnisse und Brennholz zu den Schlössern und
staatlichen Gutshöfen zu transportieren. Diese Aufträge
verursachten für die Wagenfurther Wege bis nach Melsungen,
Lichtenau, Kassel, Gudensberg, Felsberg, Homberg und Morschen. Bei
Jagden waren Jagdzeug und das erlegte Wild zu fahren. Bis in die Wälder
des Forstamtes Kehrenbach mussten die Wagenfurther mit ihren
Fuhrwerken die Jagdgesellschaften begleiten. Auch bei
Reparaturarbeiten an der Körler Mühle, an Forsthäusern und
staatlichen Gutshöfen – etwa der Fahre bei Malsfeld – oder auch
zu Reparaturen an den Fulda – Ufern wurden die Wagenfurther zu
Hilfsdiensten herangezogen.
Es
kam vor, dass sich die Sachlage veränderte und deshalb einige
Dienste nicht mehr benötigt wurden. So hatten die Bauern das zum
sogenannten Melsunger Vorwerk gehörende Land zu bearbeiten. Das
Land war aber zwischenzeitlich an Melsunger Bürger verpachtet
worden. Anstatt nun die Bauern von diesen Diensten zu befreien,
wurden sie mit einer Abgabe belastet, die etwa dem Geldwert der zu
leistenden Arbeiten entsprach. Auch waren die Wagenfurther wie
andere Dörfer verpflichtet, landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem
Raum Hersfeld in Melsungen zu übernehmen und weiter nach Kassel zu
transportieren. Weil aber diese Güter etwa ab dem Jahr 1670 mit
Schiffen nach Kassel gebracht wurden, hatten die „dienstbaren
Hufner“ den Gegenwert in Geld an die Renterey zu zahlen.
Steuern
Die
auf den Höfen und Häusern lastenden Steuern gingen nicht nur an
den Landgrafen, es „profitierten“ davon, wie es im Buch heißt,
auch: die von Riedesel zu Ludwigs – Eck, die von Dalwig, der Wolf
Bourdon zu Cassel, die von Geyso in Grebenau, der dortige Pfarrer
sowie die Grebenauer und Wagenfurther Kirche .
Keine
Merkwürdigkeiten und besonderen Umstände
Die
Verfasser des Textes sehen es jedenfalls so: „In diesem Ort
existieren keine Merkwürdigkeiten und besonderen Umstände.
Mineralien werden hiesigen Ortes keine gegraben. Wirtschaften,
Consumtion (Kaufladen) und Branntweinblasen, deren finden sich hier
keine. Keine Mühle ist allhier, sondern sind in die Cörler Mühle
gebannt.“
Die
Körler Mühle war eine sogenannte Erblehnmühle, die dem Landgrafen
gehörte, und die in Erbpacht vergeben wurde. Daher mussten die
umliegenden Ortschaften ihr Getreide hier mahlen lassen. Wie aus den
Urkunden hervorgeht brachten die Wagenfurther zu jener Zeit jährlich
etwa 80 Viertel Getreide in die Mühle (ein Homberger Viertel sind
etwa 200 Liter).
Die
„Civil- und die Criminalgerichtsbarkeit“ unterstand allein dem
Landgrafen, bzw. den von ihm eingesetzten Beamten. Auch stand die
„hohe und niedrige Jagd nur allergnädigster Herrschaft zu.“ Es
wird ausdrücklich bestätigt, dass es in Wagenfurth keine
Leibeigenschaft gibt. Bescheinigt wird den Wagenfurthern auch:
„Unerlaubte und vermöge der Zunftordnung in die Stadt zu
verweisende Handthierungen finden hier nicht statt.“ In dieser
Hinsicht war in Wagenfurth damals wohl alles in bester Ordnung.
Besonders erfreulich war ganz bestimmt die Feststellung: „Hiesigen
Orts hat man weder activ – noch passiv – Schulden auf der
Gemeinde.“
Anerkennung
des Abschlusses
Nachdem
die landgräflichen Beamten ihre Tätigkeit in Wagenfurth beendet
hatten und die Protokolle geschrieben waren, wurden diese den 9
Wagenfurther Bauern vorgelegt. Mit der Unterschrift erhielten die Maßnahmen
Rechtsgültigkeit. Am 13. Januar 1744 unterschrieben für die landgräfliche
Regierung in Kassel: C. Reichell und Br. Ostercamp, für die
Wagenfurther die Bauern: der Grebe Conrad Weinreich sowie Valentin
Henckell, Johannes Krißell, Johann Heinrich Pfeiffer, Hans Curt
Werner, Johannes Hardung, Johannes Emmeluth, Caspar Vogt, die letzte
Unterschrift ist nicht mehr eindeutig zu lesen, sie lautet etwa
Johann Georgeth.
Der
Text des Lager-, Stück- und Steuerbuches berichtet über die äußere
Situation des Dorfes. Er ist in einer sachlichen nüchternen Sprache
verfasst. Über die Situation und die Probleme der Menschen im Dorf
erfahren wir in dem Buch nichts.
Stand: 14.06.03 18:42, (c) www.koerle.net
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