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Die
soziale Sicherung der Landwirte - Ein Übergabevertrag
In
den vergangenen Jahrhunderten war die soziale Sicherung der Menschen
in Deutschland eines der größten Probleme. Man ist geneigt zu
sagen, das sei auch heute noch so- oder genauer formuliert, auch
heute wieder so. Eine gesetzliche Versicherung, die auf dem Gedanken
beruht, dass die Allgemeinheit dem Einzelnen im Notfall helfen muss,
kannte man bis ins 19. Jahrhundert nicht. Erst Reichskanzler
Bismarck setzte in den Jahren 1883 – 1889 für Arbeiter und auch für
Angestellte eine gesetzliche Kranken-, Unfall-, und
Rentenversicherung durch. Im Jahre 1927 wurde die
Arbeitslosenversicherung eingeführt. Somit gab es in Deutschland
eine Sozialversicherung, die weltweit vorbildlich galt. Freie Berufe
schlossen sich dieser Versicherung nicht an. Auch Bauern lehnten für
sich die Kranken- und Rentenversicherung ab. Die einen meinten ,
eine Pflichtversicherung schränke sie in ihrer Freiheit ein, andere
wollten mit den Arbeitern nicht gleichgestellt sein und die Mehrheit
der Bauern war der Auffassung, die bäuerliche Großfamilie biete
genügend Sicherheit.
Die
Unfallversicherung wurde allerdings auch für Bauern eingeführt.
Seit 1887 gab es die Hessen-Nassauische landwirtschaftliche
Berufsgenossenschaft, die Anfang des Jahres 1995 von der Land- und
forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Hessen abgelöst wurde.
Im
19. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man
allgemein noch ein romantisches Bild von der ländlichen Großfamilie.
„Urahne, Großmutter, Mutter, Kind in dumpfer Stube zusammen
sind.“ So beginnt ein Gedicht von Gustav Schwab. Und so stellte
man sich auch das Zusammenleben auf dem Bauernhof vor, ein glückliches
Dasein, Alte und Junge, alle gemeinsam unter einem Dach, keiner wird
allein gelassen, jeder hilft dem anderen. Doch auch damals gab es
diese Situation schon, die wir heute den Generationenkonflikt
nennen. Meinungsverschiedenheiten waren den Menschen auch früher
nicht fremd. Selbst um Kleinigkeiten konnte es im täglichen
Beieinander zu Reibereien kommen. Besonders schwierig war es für
die „Eingeheirateten“, ob nun Mann oder Frau. Sehr ungern ließ
sich die bisherige Herrin, wie man sagte, das Heft aus der Hand
nehmen. Schließlich konnten Spannungen durch äußere Einflüsse,
Krankheit, Not und Tod hervorgerufen werden. Das Thema möchte ich
hier nicht weiter verfolgen, darüber sind ja schon ganze Romane
geschrieben worden.
Uralt
ist die Problematik des Erbens und des Vererbens. Weil es im täglichen
Miteinander immer wieder Missverständnisse geben kann, hat man sich
in der Großfamilie in diesem Punkt nicht nur auf das gegenseitige
Vertrauen verlassen. Für die Sicherung des Lebens im Alter wurde
schon relativ früh ein rechtsgültiger Vertrag geschlossen. Ein
solcher Vertrag einer wagenfurther Bauernfamilie ist uns aus dem
Jahre 1845 überliefert worden. Es handelt sich um die Hofübergabe
einer Witwe an ihren Sohn. Den Originaltext habe ich gekürzt aber
sprachlich unverändert gelassen. Der Vertrag wurde am 6. Februar
1845 vor dem „kurfürstlichen Justizamte“ in Melsungen
geschlossen. Anwesend waren alle Betroffenen. Am Anfang des
Vertrages steht ein vollständiges Verzeichnis des Inventars. Es ist
dem Inventarverzeichnis ähnlich, das ich an anderer Stelle dieser
Festschrift beschrieben habe. Danach folgt ein Aufstellung de
Geldbeträge, die der Hoferbe an seine Geschwister zahlen muss.
Genau festgelegt sind auch der Zahlungstermin der Zinsen, die bei
einem Zahlungsverzug zu entrichten waren.
Und
nun der weitere Text im Original:
Außerdem
behält sich die Übergeberin für ihre in das Gut inferirten
Illaten (eingebrachten Güter), worauf sie hiermit verzichtet, für
ihre Lebenszeit folgende Auszugsleistungen vor:
a)
Den freien Aufenthalt in der untersten Wohnstube.
b)
Die alleinige Benutzung der untersten Nebenstube und den
daran liegenden beiden Kammern.
c)
Den Mitgebrauch des Bodens im Wohnhause.
d)
Den hintersten Keller, auch den freien Ein- und Ausgang durch
den vorderen Keller.
e)
Den Mitgebrauch der Küche zu allen Bedürfnissen als Kochen,
Waschen, Schlachten.
f)
Den Mitgebrauch des Backofens und Keller.
g)
Einen Schweinestall nach Wahl.
h)
Den freien Brand zu Kochen, Heizen, Backen und Waschen.
i)
Folgende jährliche Leistungen zu Martinitag als:
3 ½ Viertel Korn, 1 ½
Viertel Weizen, 1 Viertel Gerste, 1 Viertel Hafer, 2 Metzen Erbsen,
4 Metzen Bohnen, ½ Metzen Linsen, ¼ Metzen Hirsen, 3 Metzen Samen,
16 Säcke ordinäre und 4 Säcke Bergshäuser Kartoffeln, 2 fette Gänse
mit den Federn zu Christtag und die Federn von 2 Gänsen, die
Cassionar (der Hoferbe) das ganze Jahr hindurch unter den seinigen
gefüttert, 2 Hühner zu füttern, 6 Steige Eier, ein fettes Schwein
zu Christtag von 160 Pfund Gewicht, 12 Stück Schafe frei zu füttern.
j)
12 Stück Schafe nach ihrer Wahl zu geben.
k)
Eine Kuh, deren Wahl der Auszügerin überlassen bleibt, zu
geben und frei unter den Kühen des Cassionars zu füttern. Sollte
diese Kuh alt werden, krepieren oder den gehörigen Nutzen nicht
mehr gewähren, so bleibt es der Auszügerin überlassen, von den Kühen
des Cassionars eine andere zu wählen und solche für sich zu
benutzen und die erzielten Kälber für sich zu behalten.
l)
Jährlich 4 Metzen Lein und zwar 2 Metzen früh und
zwei Metzen später auf gut gedüngtes und bestelltes Land auszusäen
und den Flachs nach Hause zu fahren oder statt dessen 16 Gebunde
gebrechten Flachsund 2 Metzen Lein guter Qualität nach ihrem
verlangen zu gewähren.
m)
Jährlich den dritten Teil von allem Cassionar gezogenen
werdenden Obste.
n)
Den vierten Teil des Grabegartens oder das kleine Gärtchen
im großen Garten nach ihrer Wahl.
o)
Den vierten Teil von allem gezogen werdenden Gemüse,
namentlich Kraut, Kohlraben, Dickwurzeln, Gelbrüben, Lattich, pp.
Auch ist Auszügerin befugt, hiervon sowie von den Kartoffeln vor
der Haupternte nach ihren Bedürfnissen zu holen.
p)
Ein gut gestelltes und gedüngtes Land von einer Metze
Aussaat groß zu sonstigen Bedürfnissen geben.
q)
Cassionar muss außerdem der Auszügerin das Feuer in den
Ofen machen und die Kühe melken lassen – auf ihr Verlangen.
Der
Cassionar soll seinen Brüdern bis zu deren Verheiratung den freien
Aufenthalt in der untersten Wohnstube und die vorderste Kammer über
der untersten Nachtstube unentgeltlich Einräumen.
Alles,
was nach dem Tode der Auszügerin noch übrig sein sollte an Hausgerätschaften
sollen sich die Geschwister gleichmäßig verteilen, den Flachs und
das Leinen sollten sich die unverheirateten Geschwister teilen. Was
vom Auszuge übrig bleibt, alles übrige aber soll dem Cassionar
zufallen, wogegen er seine Mutter anständig und christlich
beerdigen soll.
Der
Übergabevertrag soll ungültig sein, wenn Cassionar das übergebene
Gut ehe er Familienvater wird, verkaufen sollte, und dann der Erlös
gleichmäßig verteilt werden sollte.“
So
weit der Originaltext. Es wird bestätigt, dass der Hoferbe vom
Militärdienst freigestellt ist, das heißt, er kann unverzüglich
seinen Verpflichtungen nachkommen. Einer der Brüder hat „von
seinem Regimentschef“ die Genehmigung erhalten, bei der
Vertragsschließung gegenwärtig zu sein.
Dieser
Text gibt nicht nur einen guten Einblick in einen Teilbereich des bäuerlichen
Lebens. Viele dieser Formulierungen findet man auch in Übergabeverträgen
bin in die neuste Zeit. Wenn auch die Regelung fast peinlich genau
formuliert sind, darf man daraus schließen, dass die Parteien
zerstritten waren. Man war nur vorsichtig und wollte allen Mißverständnissen
vorbeugen. Selbst wenn es zu Streitigkeiten kam, legte man auf dem
Hof größeren Wert darauf, dass diese innerhalb der Familie
geregelt wurden. Nichts durfte nach außen dringen. Der gute Ruf des
Hofes war ein hohes Gut.
In
den vergangenen Jahrzehnten hat sich für die Landwirtschaft eine
neue Gesetzeslage ergeben. Auch auf den Bauernhöfen ist die Großfamilie
heut die Ausnahme. Deshalb hat der Gesetzgeber auch für die
Landwirte Pflichtversicherungen angeordnet. Seit dem Jahre 1957 gibt
es die landwirtschaftliche Altershilfe, so nennt man die
Rentenversicherung der Landwirte. Im Jahre 1972 wurde die
landwirtschaftliche Krankenversicherung eingeführt, und im Jahre
1995 folgte dann die Pflegeversicherung.
Stand: 22.06.03 00:02, (c) www.koerle.net
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