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Die Flurbereinigung in Wagenfurth

Jahrhundertelang waren die Bauern, sowie die Haus- und Grundbesitzer nicht nur durch hohe Abgaben, sondern auch durch sogenannte Dienste stark belastet. Was die Wagenfurther Einwohner dem Landesherren gegenüber zu leisten hatten, habe ich im Bericht über das Lager-, Stück- und Steuerbuch erwähnt.

Im Jahre 1807 fassten vor allem die Bauern erste Hoffnung, von diesen Lasten befreit zu werden. Bekanntlich hatten im Jahre 1806 Franzosen unter Napoleon unser Land besetzt, das Königreich Westfalen gegründet, Kassel zur Hauptstadt erkoren und einen Bruder Napoleons zum König erklärt. Wenige Jahre zuvor hatte die Revolution in Frankreich dem Land eine neue Verfassung gebracht. Weil in Kassel nun ein Franzose regierte, hofften unsere Vorfahren nun auch auf die Errungenschaften der Französischen Revolution. Zwar erschien im Jahre 1808 von der neuen Regierung in Kassel eine Verordnung, die besagte, dass die Bauern von den Abgaben und Diensten befreit werden sollten. Doch was als Befreiung verkündet wurde, entpuppte sich bald als ein Versuch, die aufwändige Hofhaltung des Königs Jerome in Wilhelmshöhe zu finanzieren. Denn nur die Bauern, die einen hohen Geldbetrag an die Staatskasse zahlen konnten, sollten von diesen Pflichten entlastet werden. Kein Wagenfurther war in der Lage, das Geld aufzubringen. Im Jahre 1813 wurden die Franzosen wieder vertrieben, der Kurfürst kam aus seinem Exil nach Kassel zurück und erklärte alle von den Franzosen erlassenen Gesetze für null und nichtig. Es blieb also vorerst alles beim alten.

In einem modernen Staat war aber das althergebrachte Abgabensystem nicht mehr zeitgemäß. Es musste durch ein praktikables Steuerrecht abgelöst werden. Der Kasseler Landtag verabschiedete daher im Jahre 1832 ein Gesetz, das erneut eine Ablösung ermöglichen sollte. Die kurfürstliche Regierung war in diesem Fall jedoch klüger oder auch humaner als die Franzosen damals in Kassel. Zwar wurden auch über einen bestimmten Schlüssel für jeden Hof Ablösungsbeträge errechnet, gleichzeitig gründete man aber in Kassel die noch heute bestehende Landeskreditkasse (LKK). Ihre Hauptaufgabe war es, das Geld zu einem günstigen Zinssatz und zu einem geringen Tilgungssatz von 1 – 1 ½ % zu verleihen. In unserer Gegend nahmen in der Regel die Gemeinden den Kredit bei  der LKK auf. Die einzelnen Bauernhöfe wurden mit dem vom Staat errechneten Betrag belastet. Die jährlichen Raten wurden von dem Bauern an die Gemeindekassen gezahlt. Diese überwies dann das Geld an die LKK. In den folgenden Jahren wurde die Ablösung der Dienste und Abgaben durch mehrere Anpassungsgesetze geregelt. Heute kann man sagen, dass erst um 1850 die hessischen Bauern das volle Eigentumsrecht über ihren Besitz erhalten haben.

Die Probleme in der Landwirtschaft waren mit dem Übergang der Höfe in das uneingeschränkte Eigentum der Bauern bei weitem nicht gelöst. Die Betriebe litten unter anderem unter der Besitzzersplitterung in kleine und kleinste Acker- und Wiesenstücke. Die kleinen Feldstücke waren meistens nicht über Wege zu erreichen. Bei der Bearbeitung, der Bestellung und der Ernte musste man über den Acker des Nachbarn fahren. Daher herrschte Flurzwang. Das heißt, die Besitzer mussten sich einigen, was in den einzelnen Flurbereichen des Dorfes angebaut werden sollte, zu welchem Zeitpunkt man säen und zu welchem Zeitpunkt man ernten wollte, denn nur auf diese Weise konnte man größere Schäden vermeiden. Das konnte nicht immer gut gehen, auch wenn man zu der Zeit die Anbaupläne noch in Anlehnung an die veraltete Dreifelderwirtschaft aufstellte. Weil der Landbesitz eines Hofes in viele kleine Flächen aufgeteilt war, ging viel Zeit für die Anfahrt verloren.

Neben den Wiesen und Feldern gab es in den Dorfgemarkungen noch größere Flächen, die man „Gemeinheit“ oder „Gemeinde“ bezeichnete. Das waren zum Beispiel Huten oder Buschwerk. Diese Flächen waren im Besitz von sogenannten „Nutzungsberechtigten“. Das waren in der Regel die alteingesessenen Bauern, bzw. deren Erben. Nach dem Übergang von der Weidewirtschaft zur Stallhaltung konnte die „Gemeinheit“ nicht mehr zeitgemäß genutzt werden.

Die Besitzzersplitterung und die nur eingeschränkt nutzbaren Flächen des Gemeinschaftsbesitzes machten eine Flurbereinigung dringend erforderlich. Diese wäre in Verbindung mit der Ablösung von den Pflichtdiensten sehr sinnvoll gewesen, doch der Kurfürst in Kassel zeigte nur wenig Interesse. Erst als Kurhessen im Jahre 1866 zu Preußen kam, änderte sich die Situation schlagartig. Der preußische Staat hatte ein großes Interesse daran, die Bauernhöfe auf eine wirtschaftlich gesunde Grundlage zu stellen. In unserer Gegend wurde eine Flurbereinigung im Eiltempo vorangetrieben. Es war das Ziel der „Verkoppelung“ – so nennt man diese Maßnahme in unseren Dörfern noch heute – die zerstreut liegenden Äcker und Wiesen eines Besitzers zu großen Anbauflächen zusammenzulegen, die „Gemeinheiten“ (den Gemeinschaftsbesitz) aufzulösen und auf die Anteilseigner zu verteilen, sowie Feldwege und Entwässerungsgräben anzulegen. Wo erforderlich, wurden auch Drainagerohre verlegt. Es war abzusehen, dass alle diese Vorhaben nur mit einem großen Aufwand und nicht ohne Ärger durchgeführt werden konnten.

Nun war es sehr günstig, dass in den preußischen Kernlanden die Flurbereinigung weitgehend abgeschlossen war, und somit geschulte und erfahrene Fachleute zur Verfügung standen. Beamte aus den alten preußischen Provinzen wurden zur Ausbildung von hessischen Juristen und Landwirten herangezogen, damit diese dann als „Spezialkommissare“ die Verkoppelung hier durchführen konnten. Zudem wurden auch zahlreiche Vermessungsbeamte ausgebildet oder aus anderen Gebieten nach Nordhessen abgeordnet.

In Wagenfurth begann die Flurbereinigung schon im Jahre 1871 mit einer „Sondermaßnahme“. Die „königliche Generalkommission Kassel“ arbeitete Verträge aus, um die „herrschaftliche Schäferei“, die seit Jahrhunderten im Dorf bestand, abzulösen. Über diesen Vorgang wird an anderer Stelle ausführlich berichtet. Die eigentliche Flurbereinigung erstreckte sich über einen längeren Zeitraum. Zuerst musste die Wagenfurther Gemarkung genau vermessen werden. Jede Parzelle wurde eingezeichnet. Über all diese Tätigkeiten musste man ein Protokoll schreiben.

Nun sollte ja nicht nur der Besitz der einzelnen Bauern zu großen Flächen zusammengelegt werden, man wollte auch den Gemeinbesitz auf die einzelnen Höfe verteilen. Über diese Flächen ist in einem alten Protokoll vermerkt: „Die Gemarkung Wagenfurth wurde mit Ausschluss der Dorflage, der Gärten und einzelner servitutsfreier (steuerfrei) Parzellen seitens  der huteberechtigten Eingesessenen von Wagenfurth gemeinschaftlich mit allen Vieharten behütet.“ Die Nutzungsberechtigten waren (Anmerkung: Die Ziffern geben die alten Hausnummern an): Valentin Emmeluth (1), Johannes Justus Köbberling (2), Valentin Otto Griesel (3), Johann Justus Emmeluth (4), Konrad Hühner (5), Valentin Freudenstein (6), Adam Hartung (8), Ludwig Georg Griesel (9), Georg Andreas Reinbold (10), Heinrich Dieling (11), Johann Georg Schmidt (15), Werner Möller (16). Hinzu kamen Adam Schmidt und Friedrich Griesel aus Grebenau. Die Wagenfurther Nutzungsberechtigten besaßen jeweils ein Anteil von 13/168, die Grebenauer ein Anteil von 6/168.

Unter den Huten darf man sich nicht die heutigen Weiden vorstellen. Bevor sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Stallhaltung durchsetzte, wurde fast das gesamte Vieh eines Bauernhofes auf die Hute getrieben, das waren z.B. die Brache oder aber die in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Flächen. Dazu gehörten in Wagenfurth der Busch (Holzung), das Quillertriesch (Weide), der Siebertsberg (Holzung), die Vorhecke (Holzung) und eine Wiese auf der Flur „im Dorf“. Besondere Rechte galten für einen Teil des Waldes, der als Hutewald ausgewiesen war. Eicheln und Bucheckern waren für die Schweinehaltung ein unentbehrliches Mastfutter (Siehe hier auch den Bericht über das Lager-, Stück- und Steuerbuch!).

Wie schon gesagt, durch die Weiterentwicklung in der Landwirtschaft war nach damaliger Ansicht eine sinnvolle Nutzung dieser Flächen nicht mehr gegeben. Deshalb kamen auch diese Bereiche in die sogenannte Teilungsmasse.

Es ist leicht einzusehen, weshalb das Zusammenlegungsverfahren nicht in kurzer Zeit abgewickelt werden konnte. Besonders schwierig war natürlich die Bonitierung, und die Zuweisung der neuen Flächen in die einzelnen Bereiche der Wagenfurther Flur. Ist es doch verständlich, dass jeder das beste Land und das möglichst nahe an seinem Hof haben wollte. Der Übergang von den alten auf die neuen Grundstücke erfolgte in Wagenfurth und auch in Lobenhausen im Jahre 1890.

Aus der sogenannten „Teilungsmasse der Gemeinheit“ blieben drei Grundstücke den Dorfbewohnern erhalten. Es waren dies:

                                    eine Lehmgrube – „Am Bohlarsch“,

                                    ein Steinbruch – „Am Lehmkautenberg“,

                                    eine Sandgrube – „An der Seite“.

Die Einwohner des Dorfes durften Lehm, Steine und Sand für ihren privaten Bedarf hier unentgeltlich entnehmen. Auch wurde aus dem Gemeinschaftsbesitz ein Uferstreifen an die Gemeinden abgetreten. Damit übernahm sie jedoch auch die Uferbaulast, „soweit sie nicht dem Wasserbaufiskus obliegt.“

Die meisten Regelungen, die in Wagenfurth zur Anwendung kamen, galten damals auch in den anderen Dörfern. Für die Bonitierung, das heißt die Bewertung der Grundstücke galten überall die gleichen Grundsätze. Sie richtete sich nicht nur nach der Größe, sondern auch nach der Bodenzahl, die aus der Qualität des Bodens und nach der Lage (Hanglage usw.) errechnet wurde. Es ließ sich oft nicht erreichen, dass der Geldwert der neuen Grundstücke dem früheren Besitz genau entsprach. In solchen Fällen wurde der Differenzbetrag mit Geld ausgeglichen.

Strenge Regeln galten für die Feldwege. Die im Verfahren ausgewiesenen Gräben und Wege gingen in den Besitz der Gemeinde über. Diese wurde zur Instandhaltung verpflichtet. Die Gemeinde darf diese Wege wirtschaftlich nutzen. Das am Wegrand wachsende Gras war bei Kleinbauern und Ziegenhaltern sehr gefragt. Auch wenn man sich das heute kaum noch vorstellen kann, die Wege wurden regelmäßig an Interessenten verpachtet. Diese achteten peinlich genau darauf, dass kein Schaden entstand. In den Akten über die Flurbereinigung kann man dazu lesen: „Längs der Feldwege und Weggräben darf auf eine Breite von 0,5 m nicht geackert und keine Hecke oder Wall errichtet werden. Das Pflugwenden auf den Wegen und das Betretenlassen der Grabenböschungen durch das Arbeits- und Weidevieh ist untersagt.“ Besonders streng war das Treiben der Schafherden und die „Behutung“ in der Gemarkung geregelt Gefördert wurde das Legen von Draingeröhren. Es wurde grundsätzlich erlaubt, je nach den Erfordernissen des zu entwässernden Ackers, die Rohre durch das Grundstück des Nachbarn zu legen.

Als das Zusammenlegungsverfahren schließlich abgeschlossen werden konnte, wählten die beteiligten Wagenfurther drei Deputierte; es waren diese: Konrad Hühner, Adam Hartung und Konrad Krug. Sie wurden bevollmächtigt, wie es im Protokoll heißt: „Ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten in jeder Beziehung zu vertreten und für sie alles dasjenige zu tun, was nach den gesetzlichen Vorschriften über das Auseinandersetzungsverfahren (die Verkoppelung) die Teilnehmer selbst zu tun berechtigt und verpflichtet sind.“

Auf diese drei Deputierten kam schon bald Arbeit zu. Nach dem Abschluss der Flurbereinigung gab es nicht nur Zufriedene im Dorf. Mehrere Betroffene weigerten sich, den Receß (das Abschlussprotokoll) zu unterschreiben. Folglich kam es zu einem Gerichtsverfahren. Wenn man die Liste der Richter und Sachverständigen liest, staunt man heute, mit welchem Aufwand die Justiz die Sache bereinigen wollte. Es nahmen von Seiten der „Königlichen Generalkommission zu Kassel“ teil: Der Präsident von Baumbach, der Oberregierungsrat Wissmann, die Geheimen Regierungsräte Rintelen und Rauch, die Regierungsgräte Gutsche, Mahraun und von Engelbrechten, der Regierungs- und Handelsökonomierat Klostermann, die Regierungsräte Sommatsch und Winter. Die Wagenfurther waren durch ihre drei Deputierten vertreten. In allen Fällen wurde der Widerspruch für rechtsunwirksam erklärt. Damit wurde das Flurbereinigungsverfahren amtlicherseits am 13. November 1901 abgeschlossen.

Für die drei Deputierten gab es allerdings noch viel zu tun. In den folgenden Monaten wurden mehrere Mängel offenkundig. So waren zum Beispiel einige Gräben so angelegt, dass bei starkem Regen das abfließende Wasser auf Feldern und in Gärten Schäden anrichten konnte. Bei der Überprüfung der Grundstücksgröße stellte man in wenigen Fällen Abweichungen von dem amtlichen Messergebnis fest. Schließlich stellte sich heraus, dass die Streckenführung einiger Feldwege die Anlieger benachteiligte. Diese Mängel erforderten Nachverhandlungen mit der Kommission. Die Probleme bei den Wassergräben und die Differenzen bei den Grundstücksabmessungen ließen sich leicht beheben. Durch die unterschiedlichen Auffassungen bei den Führungen der Feldwege gab es allerdings Streitigkeiten zwischen den Anliegern. Endgültig abgeschlossen hat man das damalige Verkoppelungsverfahren erst im Oktober 1903.

Stand: 15.06.03 13:10, (c) www.koerle.net 

 

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